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Garten der Wünsche

?Textschnipsel Nummer 1?

Am 13. Mai erscheint endlich der Garten der Wünsche. Um die Wartezeit zu verkürzen, poste ich hier in den kommenden Tagen ein paar Auszüge aus dem 1. Kapitel.

Ein erster, vorwitziger Sonnstrahl traf Klara Gorse an der Nasenspitze. Es war früh am Morgen. Die Welt in Lindebühl schlief noch, und sie verharrte für einen kleinen Moment auf der großzügigen Veranda der alten Pension, während die aufgehende Sonne kleine goldene Streifen in die Sträucher und Bäume des altehrwürdigen Gartens malte. Dreißig Jahre war sie jetzt hier. Gekommen war sie als junges Mädchen voller Tatendrang, das Herz offen und weit, voller Freude auf die Abenteuer des Lebens. Sie, die Süddeutsche, die Zugezogene, hatte in diesen dreißig Jahren ihren festen Platz in einer Gemeinschaft eingenommen, die ihr damals so fremdartig vorgekommen war. Das Leben in Lindenbühl war voller Geheimnisse. Es hatte einige Zeit gedauert, bis man sie in alles eingeweiht hatte, was sie hatte wissen müssen, und doch schien sie immer noch jeden Tag Neues zu lernen.

Klara schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf das Rauschen in ihrem Rücken. Es war das Wasser, das im Stamm des Baumes zirkulierte. Sie musste lächeln. Als sie hier angekommen war, hatte sie sogar lauthals gelacht, als Heidrun ihr mit erstem Gesicht erklärt hatte, sie solle dem Baum zuhören. Wochenlang und mit großer Beharrlichkeit hatte Klara damals ihr Ohr an seine Rinde gedrückt und nichts gehört. Bis der Apfelbaum ihr einen Apfel mitten auf den Kopf geworfen hatte. Er hatte das sehr nachdrücklich getan – vielleicht war er genervt von ihren unbeholfenen Versuchen –, und der Apfel hatte es nicht nur geschafft, Klara der Länge nach ins Gras zu befördern, sondern auch gleich noch ihr Gehör geschärft. Danach hörte sie das Wasser im Stamm zirkulieren. Laut, deutlich und eigentlich nicht zu überhören. 

Ein Blatt fiel Klara förmlich auf den Schoß. Erstaunt hob sie den Blick in die stattliche Baumkrone, nahm das Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt es gegen das Licht. Die Adern hoben sich heller ab, das Grün schien eine andere Farbe zu haben, als noch im letzten Jahr. Es war blasser. Sie drehte und wendete das Blatt im Licht und lauschte angestrengt dem Baum. 

»Warum verlierst du ein Blatt?«, fragte sie ihn schließlich leise und steckte es in die Taschen ihrer Strickjacke. Er antwortete auf seine Weise. Leise murmelte ein lauer Wind in seiner Krone, das Wasser rauschte durch seinen Stamm, und Klara schloss die Augen, um besser hören zu können. Und trotzdem, obwohl sie seit dreißig Jahren unter seinen Ästen saß und ihm zuhörte, verstand sie ihn diesmal nicht. Erstaunt legte sie eine Hand an seinen Stamm, doch da schwieg er. 

 

 

Kristina Valentin. Garten der Wünsche. Erscheint am 13. Mai im Diana Verlag. Vorstellbar ist das Buch hier!

 

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