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Reinschmöker Posting Kapitel 1

Kapitel 1 ❤

Dieser Mai hat es in sich. Es ist unfassbar heiß. Matt bleibe ich im Flur unserer kleinen Wohnung stehen und atme tief durch. Es fühlt sich ein wenig an, als würde ich versuchen durch glühend heiße Watte zu atmen.

„Wam“, murmelt meine Tochter Hanna in meine Halsbeuge, und ich lasse sie auf den alten Linoleumboden herunter. Mein Großer ist schon losgezogen, um alle Fenster aufzureißen. Lukas ist neun, und mich beschleicht immer häufiger die Vermutung, dass er der einzige mit einer praktischen Veranlagung in unserer kleinen Familie ist. Das hat er von seinem Vater.

„Was gibt es zu essen?“ Seine dunklen Haare sind vollkommen verschwitzt, und eine Welle der Zuneigung erfasst mich.

„Pizza“, sage ich kurzentschlossen und bringe damit meine Kinder schlagartig an den Rand eines Glückstaumels. Lukas klatscht in die Hände, und Hanna schüttelt ihre Locken.

Wir lieben Pizza. Alle. Und dann leider auch noch diese mit chemischen Zusätzen vollgestopfte Tiefkühlpizza. Deswegen bemühe ich mich regelmäßig um eine ausgewogene, nährstoffreiche und biologisch wertvolle Ernährung, damit ich Tage wie diese vor meinem mütterlichen Gewissen verantworten kann. Aber dieser Tag schreit einfach nach Pizza, schließlich habe ich stundenlang zwei reichlich widerspenstigen Menschen beim Streiten zugeschaut. Ich bin Mediatorin, und mit Streitschlichten verdiene ich meinen Lebensunterhalt, aber heute war alles zu lang, zu vollgepackt, und ich bin zu erschöpft, um mehr als fünf Minuten in der Küche zu stehen.

Trotz dieser Zeitersparnis dauert es dann doch fast zwei Stunden, bis meine Kinder endlich im Bett liegen. Hanna will nicht duschen, Lukas will aus der Dusche nicht mehr raus und sieht sich trotz der Außentemperaturen außer Stande, kälter als mindestens Körpertemperatur zu duschen. Das trägt nicht zur Verbesserung des Raumklimas bei. Ich überstehe die Duschorgie mit leicht vibrierenden Nerven und dicken Schweißtropfen, die mir den Rücken hinunterlaufen. In der Wohnung sind es mittlerweile gefühlte 56 Grad.

Gegen neun betrete ich endlich meinen Balkon, sinke auf den roten Holzstuhl nieder und gönne mir einen Schluck eisgekühlten Roséwein. Ich möchte vor Wonne aufstöhnen, sehe aber davon ab, weil nur zwei Meter neben mir Signora Rosa gerade dabei ist, ihre Wäsche platzsparend übereinander auf ihren Minibalkon zu hängen.

Sie freut sich, mich zu sehen, und strahlt über das ganze Gesicht. Signora Rosa kommt aus Rom und spricht nur sehr wenig deutsch. Sie ist meine Nachbarin, seit ihr Mann vor vier Monaten ein italienisches Restaurant gleich bei uns um die Ecke eröffnet hat. In ihrer Heimat war sie Krankenschwester, und sie hat Lukas schon zwei Mal ein aufgeschlagenes Knie verarztet. Ich bin nämlich nur so lange hart im Nehmen, bis Blut ins Spiel kommt. Beim Anblick einer blutenden Wunde, die sich an einem Körperteil meiner Kinder befindet, drohe ich ernsthaft in Ohnmacht zu fallen. Aber Signora Rosa kann das. Generell ist sie ausgesprochen nett zu allen Menschen im Haus und kümmert sich allein um ihre vier Kinder. Ihr Mann arbeitet schließlich den ganzen Tag im Restaurant.

Ihre Wohnung ist exakt so groß wie meine – 65 Quadratmeter –, womit sie nicht nur ihre Wäsche in Etagen trocknen, sondern die ganze Familie auch in mehreren Etagen schlafen muss. Plötzlich verspüre ich tiefe Dankbarkeit, weil wir nur zu dritt in der kleinen Wohnung wohnen, und bemühe mich auch gleich um einen dankbaren Gesichtsausdruck – wer weiß, vielleicht guckt ja just in diesem Moment eine höhere Instanz auf mich herunter und das würde dann sicherlich mein Karma verbessern. Zu Signora Rosa sage ich: „Feierabend!“

„Feierabend“ war eines der ersten Wörter, die ich ihr beigebracht habe.

Signora Rosa nickt mir fröhlich zu. Dann lacht sie, winkt und entschwindet. Sicherlich nicht, um Feierabend zu machen, sondern vermutlich, um in ihrer Miniatur-Küche schnell noch fünf komplizierte italienische Gerichte für ihre große Familie zu kochen.

Ich nehme noch einen Schluck Rosé und blicke in unseren trüben Hinterhof. Wenn man die Augen schließt und die hässlichen Fassaden der uns umzingelnden Gebäude nicht mehr sieht, kann man sich kurz einbilden, man befände sich irgendwo in Florenz oder Mailand. Die Tatsache, dass es von nebenan köstlich nach Rosmarin und Tomatensugo duftet, hilft dabei enorm. Man darf nur die Augen nicht aufmachen. Dann sieht man leider sehr deutlich, dass man direkt in einen alten und schäbigen deutschen Hinterhof starrt. Der auch noch den Blick auf den Horizont versperrt. Und dabei gehört der Blick in die Weite für mich zum größten Luxus …

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