Diese Szene hat nie stattgefunden (oder vielleicht doch?). Sie spielt irgendwo zwischen Buch vier und fünf.
Und dann ist er da. Der Tag, den ich gekonnt all die restlichen Wochen verdrängt habe. Es ist ein Samstag, wohlweislich von mir so ausgewählt, damit ich nicht vorher noch zur Arbeit und meinen Kollegen erklären muss, warum ich früher Feierabend benötige.
Ich liege im Bett und starre an die Decke. Es ist halb acht. Der Termin wäre um halb elf. Ich könnte also noch anrufen und absagen. Das passiert bestimmt manchmal. Menschen werden krank, bekommen Grippe, Angst, kalte Füße, Brechdurchfall. Alles Dinge, die sie daran hindern könnten, den Termin einzuhalten.
Ich bleibe noch eine komplette Stunde im Bett liegen. Selbst der Koffeinentzug hält mich nicht davon ab. Denn sobald ich aufstehe, muss ich eine Entscheidung treffen.
Im Haus rumort etwas oder jemand. Vor einigen Jahren noch wäre das ein guter Grund gewesen, in Panik auszubrechen, aber heutzutage lebe ich mit so vielen Wesen in meistens friedlicher Koexistenz zusammen, dass spontanes Herumrumoren als völlig normal zu bewerten ist.
Ich rekele mich ein wenig und blinzle dann in die schon hell am Horizont stehende Sonne vor dem Fenster. Das Schlafzimmer ist günstig gelegen, es bekommt gleich als erstes Morgensonne ab, und ich liebe es, den Tagesanbruch zu erleben. Deswegen schlafe ich auch immer mit weit offenem Fenster. Es gibt nichts Schöneres, als von den Vögeln bei ihrem Frühkonzert im Sommer geweckt zu werden.
Ganz langsam stehe setzte ich mich auf. Mein Blick fällt auf Vincents Danko Jones T-Shirt, das ich ihm zu Weihnachten geschenkt habe, und ich muss mich schlagartig wieder hinlegen.
Ich dachte, mit dem Ritual im Garten eine positive Entwicklung angeschoben zu haben, aber ich habe seitdem nichts mehr von Vincent gehört. Oder gesehen. Es ist ein tiefer Schmerz mitten im Magen. Ein mächtiges Sehnen in Verbindung mit einer immer stärker werdenden Wut. Und Angst. Ich habe alles getan, was ich konnte. Nicht aufgegeben. Aber nun kann ich nicht mehr. Nun ist auch meine Energie aufgebraucht.
Meine Mutter behauptet immer, dass ich auch in den ausweglosesten Situationen noch über ein Fünkchen Mut und Zuversicht verfüge. Sie hat sogar einen Namen für dieses Phänomen. Sie nennt es: „Mangelhaftes Erkennen von wirklich aussichtslosen Situationen, gepaart mit einem Schuss Dummheit.“ In echt meint sie aber wohl, dass ich schlichtweg ein bisschen realitätsblöd bin, um wirkliche Verzweiflung zu kennen. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Aber so tief der Schmerz auch ist, meine Kaffeesucht ist für diesen Moment dann doch stärker und ich streife mir Vincents Shirt über, fahre mir einmal durch die Locken und wanke barfuß los in die Küche.
In der ein Mann steht. Mit Anzug. Und raspelkurzen Haaren. Er steht am Fenster und schaut auf den Garten und sieht von hinten schon so aus, als wäre er von vorne zum Niederknien schön.
Ich bin ernsthaft derart irritiert, dass mein Ortungssystem einen Herzschlag länger benötigt, bis es mir ein müdes: „Das ist Vincent, du Trulla!“ in die Wahrnehmung funkt.
„Vince?“ Ich muss gerufen haben. Vielleicht auch mit einem hysterischen Unterton. Nicht auszuschließen. Aber dieser Mann in meiner Küche hat so gar nichts gemein mit dem wilden, ungezähmten ud voller Schmerz steckenden Kerl in Wald.
Er dreht sich um, entpuppt sich tatsächlich als Vincent, legt den Kopf raubtierhaft schräg und sagt: „Ich wollte dich gerade wecken. Sonst kommen wir zu spät.“
„BIST DU IRRE?“, brülle ich ihn an. Oder besser das leidgeplagte Seelchen tief im hintersten Winkel meines schmerzenden Herzens veranlasst mich zu brüllen.
Vince hebt eine Augenbraue. Dann schüttelt er den Kopf.
„Du lässt tagelang nichts von dir hören, und ich denke, nun ist es endgültig vorbei, und dann tauchst du hier einfach auf?“, brülle ich fassungslos weiter, wenn auch ein wenig leiser als vorher. Wir wollen ja nicht gleich die magische Kavallerie in der Küche stehen haben.
„Hast du den Termin abgesagt?“, fragt er nur.
„Nein!“, rufe ich. „Hab ich nicht. Aber ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass wir da hinfahren.“
„Aber ich bin doch hier. Und du auch …“
„Das reicht aber noch lange nicht!“, fahre ich ihm über den Mund. „Was tun wir denn jetzt?“
Ich raufe mir die Haare, wohlwissend, dass ich wie eine Gewitterhexe aussehen muss. Ich glaube, ich habe mich gestern Abend nicht mal mehr abgeschminkt, womit ich jetzt vermutlich über meinen lilafarbenen Augenrändern noch tiefschwarze Mascara-Schmiere trage. Wie ein Uhu. Und meine Haare geben sich den üblichen tumultartigen Zuständen hin.
„Wir fahren da hin. Wenn du noch willst“, sagt er leise, bleibt aber regungslos am Fenster stehen. Ich muss mich sammeln. Zu diesem Zwecke hebe ich eine Hand und mache wilde Bewegungen.
„Was heißt das?“, erkundigt Vince sich.
„Hatte noch keinen Kaffee. Klappe halten“, mit diesen Worten nötige ich meinem Kaffeevollautomaten einen hammerharten Kaffee ab und trinke ihn in kurzen Zügen komplett aus. Langsam erwachen mein Klein- und Großhirn und zum Glück auch andere Teile meines Körpers, die wichtig für diesen Tag sein werden.
„Ja“, sage ich schließlich. „Wir fahren da hin. Wenn du es auch willst.“
„Elionore. Ich will nichts mehr als das. Es ist wichtig, dass wir auch vor dem Gesetz verheiratet sind.“
„Geht es dir besser?“, frage ich leise. „Wird es wieder passieren? Ich könnte es nicht mehr ertragen, wenn du einfach so im Wald verschwindest. Ich hatte solche Schmerzen. Hier!“ Ich deute nachdrücklich auf mein Herz. „Es ist schier zerrissen!“
„Ich weiß. Aber der Gedanke an dich war das Einzige, was mir geholfen hat, weiterzumachen. Jeden Tag. Jeden Morgen. Du. Nur du. Es tut mir leid. Hätte ich anders gekonnt … Nur weil du so stark warst, konnte ich das überleben.“
Er ist näher gekommen. Weil er ein wirklich mutiger Mann ist, jeder andere hätte Reißaus genommen. Er umfasst jetzt mein Gesicht mit seinen Händen.
„Aber ich bin noch da. Ein wenig wackelig. Noch nicht wieder ganz hergestellt. Aber es ist besser.“
„Konntest du dich mit meiner Linie verbinden?“
Er hebt den Kopf und atmet tief durch. „Manchmal klappt es. Manchmal nicht. Sie ist ständig bei mir, umkreist mich, berührt mich, lässt nicht locker. Aber es gibt Momente, in denen ich mit ihr verbunden bin. Ja. Und dann spüre ich die alte Machtfülle. Eli. Wenn wir da hinwollen, musst du dich jetzt anziehen.“
Ich hänge noch bei der Linie und seiner Verbindung zu ihr, und seine Worte reißen mich brutal zurück in die Wirklichkeit. Mein Blick gleitet zur Backofenuhr. Es ist durchaus noch zu schaffen. Wenn man nicht solche Haare hätte wie ich. Und sich erst noch abschminken müsste, bevor man sich neu schminkt. Und keine grandiosen Augenringe verstecken müsste. Und wüsste, wo das Kostüm ist, nach dem man wochenlang gesucht hat, das so unfassbar teuer war, dass ich mir nie wieder Klamotten kaufen kann.
Aber man kann mir viel nachsagen, doch nicht, dass ich nicht immer engagiert bin.
Ich drücke Vince die Tasse in die Hand und renne ins Band. Abschminken dauert zwei Minuten, die Haare unter dem Wasserhahn halten nur eine, sie hinterher mit dem Föhn halbtrocken pusten und dann mithilfe aller Haarnadeln, die ich finden kann, hochstecken, leider zehn. Mein Haar ist gerne unkooperativ und rebellisch.
Weitere fünf Minuten male ich mich an, wobei der Lidstrich links fett, der rechts eher mager ausfällt. Da die Mammutaufgabe, das Kostüm zu finden, aber noch vor mir liegt, entscheide ich, dass man zwei unterschiedlich dicke Lidstriche jetzt durchaus trägt. Obenherum bin ich soweit hergestellt.
Vincent bringt mir einen zweiten Kaffee und meine neuen cremefarbenen Pumps.
„Wie konnte ich nur ohne dich leben?“, frage ich hektisch und schlüpfe in die lilafarbene Jogginghose, die auf dem Badewannenrand liegt und das rote Oberteil für das Kostüm.
„Guck nicht so!“, sage ich zu meinem Mann, der den Mund aufgeklappt hat, weil er offenbar die Sorge hat, dass ich in diesem Aufzug zu dem Termin gehen will. Will ich aber gar nicht. Ich will nur nicht gänzlich ohne Hose ins Gästezimmer schleichen. Denn genau dort vermute ich mein Kostüm.
Ich trinke einen großen Schluck Kaffee und laufe dann auf Zehenspitzen zum Gästezimmer. Die Tür ist geschlossen, und ich klopfe federleicht an. Dann hüpfe ich ein wenig auf der Stelle und entscheide mich, ohne dass mir Einlass gewährt worden wäre, einzutreten. Es ist schließlich im weitesten Sinne ein echter Notfall.
Pax und Maxim schlafen fest umschlungen, und ich schleiche nahezu lautlos wie ein Wattebausch (kann ich offenbar doch!) bis zum großen Einbauschrank an der gegenüberliegenden Seite. Ganz leise öffne ich die Schranktüren und starre auf feinsäuberlich aufgereihte Anzüge und Hemden. Sieht aus wie beim noblen Herrenausstatter. Offenbar ist Maxim hier doch intensiver eingezogen, als mir bewusst war. Pax trägt nämlich nur schwarz.
Ich spähe um die Ecke, des wirklich großen Einbauschrankes und entdecke am anderen Ende den weißen Kleidersack, in dem ich mein Kostüm das letzte Mal gesehen habe.
„Oh ja!“, hauche ich und schiebe mich vorbei an Nadelstreifen und hellblauen Herrenoberhemden. Es dauert noch mindestens weitere quälende dreißig Sekunden, bis ich das weiße Teil zu fassen bekommen, aber dann trete ich so leise wie möglich mit meiner Beute im Arm den Rückzug an.
Grunzende Geräusche von mir gebend reiße ich mir noch im Flur zum Gästezimmer die Jogginghose vom Leib und schlüpfe in den cremefarbenen Rock. Dann ziehe ich mir die Kostümjacke über und knöpfe sie zu. Ich stürme zurück ins Band, reiße Vincent die Pumps aus der Hand und springe hinein.
„Fast fertig“, rufe ich und fange an, hektisch nach der alten Bernsteinkette meiner Oma zu suchen.
Ich finde sie an der Deckenlampe und greife dann noch nach dem alten Pentagramm, das ein wenig länger ist als der wunderschön gearbeitete Bernsteinanhänger. Ein Pentagramm muss man nun auch nicht jedem direkt vor die Nase halten. Damit können die meisten Leute nichts anfangen und wenn, ist es oft der falsche Gedankengang.
„Fertig!“, sage ich und meine es auch so. Ich bräuchte jetzt ein großes Frühstück und noch mindestens drei weitere Kaffee, aber vermutlich sind wir schon im Verzug.
„Achtzehn Minuten und dreißig Sekunden. Es ist sinnvoll, dich zu heiraten. Nur wenige Frauen schaffen das. Respekt“, sagt Vincent und klingt das erste Mal seit langer Zeit wie er selber. Wie der Mann, den ich so sehr vermisst habe.
Er sieht gut aus. Ich mag es, wenn er das Haar kurz trägt. Es bringt sein markantes Gesicht gut zur Geltung, und das blütenweiße Hemd umspielt seinen muskulösen Körper.
Er nimmt mich an der Hand, und wir laufen zu meinem Alfa Romeo. Ich fahre. Wie immer. Und kaum habe ich meine Handtasche auf den Rücksitz geschmissen, stecke ich den Schlüssel ins Zündschloss, drehe um, und es passiert … nichts.
„Meiner fährt nur, wenn ich ihn jeden Tag bespreche, sein Öl liebevoll wiege und wiederholt beteure, dass er nicht kaputt gehen kann“, sagt Vincent trocken zu meinem panischen Blick. Sein unkaputtbarer Pick-up steht nämlich leider ständig kaputt in der Garage herum.
„Hier parken noch zwei Luxusschlitten der Oberklasse. Wir brauchen die Schlüssel“, sage ich, hechte aus dem Alfa und stürme ins Haus.
Vince folgt mir. „Ich suche im Flur und Wohnzimmer, du in der Küche“, erteilt er mir Anweisung, und weil ich mittlerweile leichte Schnappatmung habe, tue ich, was er sagt. Die geneigte Leserin weiß, dass ich selten das tue, was man mir sagt, schon gar nicht, wenn es sich um irgendwelche Aufträge von mächtigen Gestaltwandlern handelt, aber heute gilt eine Ausnahmeregelung.
Ich durchforste die Küche wie ein Trüffelschwein, finde einen verschollenen Sparschäler, drei mir fremde Tafeln Schokolade, die wohl Maxim eingeschmuggelt haben muss, aber nichts, was auch nur annähernd mit einem Autoschlüssel zu tun haben könnte.
Fünf Minuten später treffen Vince und ich uns wieder im Flur. „Gästezimmer“, sagt er knapp, und ich nicke.
„Ich gehe alleine. Dich könnten sie fressen.“
Vince tippt sich auf die imaginäre Armbanduhr. Ich schlüpfe aus meinen Pumps und tigere los.
Die Kerle schlafen noch genauso tief wie vorhin. Kurz überlege ich, das Zimmer systematisch zu durchsuchen, sehe dann aber davon ab. Ich muss einen der beiden wecken.
„Ene mene miste“, murmle ich und entscheide mich dann spontan für Maxim. Pax hat tiefe Ringe unter den Augen und wirkt auch im Tiefschlaf noch zu Tode erschöpft.
Leise pirsche ich mich an den Drachen heran und berühre ihn äußerst vorsichtig an der Schulter. „Maxim“, flüstere ich.
Ich muss ihn aus wirklich tiefem Schlaf gerissen haben und kann vermutlich dankbar sein, dass er mich nicht spontan und reflexhaft geröstet hat. Aber der der Blick aus seinen grünen Augen ist sehenswert. So zwischen Schlaf und wach, der Drache irgendwo knapp hinter der Fassade der Zivilisation.
Er blinzelt mich an und fragt mit rauer Stimme „Ist was passiert?“
„Du musst mir dein Auto leihen“, sage ich. „Tschuldigung, dass ich dich wecke. Mein Alfa springt nicht an, und ich habe einen ganz wichtigen Termin!“
Maxim windet sich aus den Laken und steht keinen Herzschlag später nackt vor mir. Also richtig nackt. Ich gucke zur Zimmerdecke, die bestimmt in den nächsten fünf Jahren noch mal gestrichen werden müsste.
„Was hast du da an?“, fragt er mich und greift in seine Anzugjacke, die auf einem Bügel vor dem Kleiderschrank hängt.
„Ein Kostüm“, erwidere ich freundlich.
Maxim hält mir einen Schlüssel entgegen und grinst. Er wirkt plötzlich, direkt aus dem Schlaf gerissen, mit zerstrubbelten Haaren so ganz anders als sonst. Viel menschlicher. Und sein Grinsen ist irgendwie wissend. Dabei gibt es hier nichts zu wissen. Deshalb grinse ich kurzerhand zurück und dann sehe ich zu, dass ich in meine Schuhe und ins Auto komme.
Der Mercedes ist ein absoluter maskuliner Kraftprotz. Während der Maserati ja wenigstens noch den Anschein eines italienischen Supersportwagens machen möchte, ist der Mercedes da völlig pragmatisch und fett. Keine Ahnung, was für ein Motor unter der lackschwarzen Haube schlummert, aber er benimmt sich wie ein wildes Tier, sobald man das Gaspedal auch nur sanft berührt. Zum Glück kenne ich den Weg, denn ich wäre keinesfalls in der Lage, die Navigation in diesem Ungetüm zu programmieren. Eher könnte ich wohl eine Raumfahrtflotte im Kampfeinsatz durchs All befehligen.
Vincent, der das Navi sicher in den Griff bekommen würde, weil er alles, was mit Befehlen an Maschinen zu tun hat, beherrscht, sieht derweil aus dem Fenster, offenbar aufs äußerste konzentriert, die überzeugende Imitation eines Menschen abzugeben.
Ich weiß, dass jetzt nicht einfach alles wieder gut ist. Ich selber werde Zeit benötigen, diese schwierige Phase zu verarbeiten. Ich werde Zeit brauchen, die Enttäuschungen, dieses hilflose Gefühl des Verlassenwerdens wegzustecken. Und trotzdem ist es richtig, dass wir das hier und heute tun.
Irgendwann, an der ersten großen Kreuzung in der Stadt, legt er seine Hand auf mein Bein und lässt es erst los, als ich versuche, rückwärts in eine enge Parklücke vor dem Schloss zu manövrieren.
„Der kann das alleine“, sagt er, drückt einen Knopf, greift zu mir herüber, nimmt meine Hände vom Lenkrad, und der Obermacho mit dem Stern auf dem Kühler parkt eigenständig ein. Rückwärts. In eine Miniaturparklücke.
„Das ist jetzt schon beeindruckend“, sage ich und pruste Luft durch die Lippen. Mir schlägt doch glatt das Herz bis zum Haaransatz. Und das liegt nicht daran, dass Maxims Karre selbständig einparken kann.
Das Schloss, in dem sich unser Standesamt befindet, ist sehr schön, wenn auch riesig und dadurch ein wenig furchteinflößend. Es wirkt ein wenig, wie etwas, dass jemand durch die Luke eines Raumschiffes verloren hat, und steht quadratisch und wacker mitten in der Landschaft herum. Davor, auf der rechten Seite, befindet sich die ehemalige Remise, in der jetzt eine gutgehende Gastronomie untergebracht ist, und linker Hand schließt sich der Schlosspark mit uraltem Baumbestand an.
Vincent legt mir den Arm um die Schulter, und wir betreten gemeinsam den Schlosshof. Vincents spontaner Widerwillen durchkreist schlagartig seinen Organismus. Hier ist nämlich, gelinde ausgedrückt, die Hölle los. Das ist nichts für meinen Mann, der die vergangenen Tage im Wald verbracht hat, um mit seinem Jaguar elementare Lebenskrisen durchzustehen. Aber wenn er sich weiterhin an mir festhält, wird es schon gehen.
Ich erspähe den Eingang und dirigiere uns mitten durch die Menschenansammlung, bestehend aus Bräuten und Bräutigame und Familien und Freunden und Arbeitskollegen. Die Stimmung ist ausgelassen, überall wird mit Sekt angestoßen, Luftballone fliegen zum Himmel, Menschen klatschen und küssen sich. Ich bin zutiefst dankbar für unsere damals spontane Entscheidung, dies hier ganz alleine zu machen. Nicht auszumalen, wenn zu diesem Tumult noch alle unsere Freunde und die Familie kommen würden.
Wir steuern die kleine braune Holztür an, die ins Innere des Schlosses und damit zum Standesamt führt, und ich spüre die Blicke, die uns folgen. Das liegt nicht an meinem sündhaft teuren Kostüm, es liegt an Vincent in seinem schwarzen Anzug, mit Weste und Einstecktuch.
Ich bin es gewohnt, dass er die Blicke auf sich zieht. Dass die Menschen, vorzugsweise natürlich Frauen, ihn anstarren. Normalerweise bewegt er sich sicher in seinem Mensch-Modus. Die menschliche Maskerade lenkt ab von seiner andersartigen Ausstrahlung. Dennoch umgibt ihm immer etwas Wildes und Ungezähmtes. Und er ist zum Niederknien schön. Aber das bin ich schließlich auch.
Hoch erhobenen Hauptes laufen wir die Treppe zum Standesamt hinauf. Auch hier stehen überall Menschen herum. Herausgeputzt und fröhlich. Aufregung lässt die Luft flimmern.
Vor dem Raum, in dem die Trauungen offenbar im Halbstundentakt durchgeführt werden, gibt es das Büro zur Anmeldung.
„Puh“, sage ich und bleibe stehen. Zwar bin ich durch die regelmäßigen Besuche beim Notar abgehärtet im Umgang mit deutscher Bürokratie und beglaubigten Dokumenten, aber das hier ist dann doch noch eine Spur härter.
Ich heirate nämlich heute nicht Vicente aus dem brasilianischen Dschungel, sondern Vincent Schmidt aus Hameln. Der, ganz nebenbei, auch in Hameln geboren wurde und laut seinem deutschen Pass 1,87m groß ist und braune Augen hat. Wenigstens das stimmt.
Die magische Gemeinde verfügt über die besten Dokumentenfälscher der Welt. Besser als die der Mafia. Weil sie dieses Gewerbe nun mal schon sehr lange betreiben und jederzeit up to date sind. Einige von uns altern nur langsam, da muss regelmäßig das Geburtsjahr angepasst werden, andere haben jahrzehntelang überhaupt gar keine Ausweispapiere und müssen irgendwann für eine Reise doch mal Europa verlassen, sind aber bei keiner Behörde registriert und somit offiziell gar nicht auf der Welt.
Letztes Beispiel war der Ausbruch des Eyjafjallajökull auf Island. Viele Mitglieder des magischen Rates mussten dort hinreisen und mit den Gnomen verhandeln, aber kaum einer, bis auf die Hexen, hatte irgendwelche Ausweispapiere.
Wer mag, kann das direkt noch mal in Band 2 „Engel lieben gefährlich“ nachlesen. Smilla musste nach Island und die Welt retten und hat Eli mit einem sehr großen Problem alleine zurückgelassen.
Nun kommen also alle magischen Wesen aus Hameln, weil dort im Einwohnermeldeamt ein Magier sitzt, der das ganze managt. Unterstützt wird er von einer talentierten Hexe, die sämtliche Server der Bundesrepublik Deutschland hacken kann. Und trotzdem schlägt mir das Herz bis zum Hals, als wir vor der jungen Frau im Anmeldezimmer des Standesamtes Platz nehmen und ihr unsere Ausweise und die beglaubigten Abschriften aus den Geburtsregister zuschieben. (Witzig. Wären wir ehrlich, müsste bei Vince draufstehen: geboren irgendwo im Dschungel.)
Ich kann ja noch nicht mal parken, ohne einen Parkschein zu ziehen. Das ist fast schon zwanghaft. Bestimmt eine Störung. Panische Angst vor eigenem zivilem Ungehorsam.
„Gut“, die Dame unterbricht meine wirren Gedankengänge. „Frau Brevent und Herr Schmidt. Und Sie, Herr Schmidt, wollen den Namen Ihrer zukünftigen Frau annehmen?“
Ich bin der Meinung, aufrichtige Skepsis in ihren Augen zu sehen. Sie findet mich komisch. Und meinen Mann rattenscharf. Ich sollte mich mittlerweile daran gewöhnt haben. Habe ich aber nicht.
„Oh ja!“, sage ich also.
„Nun“, erwidert sie ein wenig zögerlich, als könne sie es wirklich nicht glauben dass Herr Schmidt lieber Herr Brevent sein möchte. „Das muss ihr zukünftiger Mann natürlich entscheiden. Sie müssten den gemeinsam geführten Familiennamen dann hier eintragen.“ Sie schiebt Vincent ein Formular herüber und sieht mich dann strafend an.
Ich gucke nicht minder strafend zurück. Denkt die, ich würde meinen Mann dazu nötigen? Er hat ja noch nicht mal einen eigenen Nachnamen, da nimmt er meinen doch mit Kusshand.
Vince greift sich den Stift und fängt an, das Formular auszufüllen. Seine Hand zittert. Was tun wir hier eigentlich? Dann schiebt er das Blatt Papier zu mir, drückt mir den Stift in die Finger und ich notiere nicht minder zittrig die restlichen Dinge. Und dann stehen wir auf, verlassen die skeptische Frau und laufen über die ausgetretenen Steinstufen eine Etage höher.
Die Sonne scheint durch die hohen Bogenfenster und draußen blickt man direkt in dunkelgrüne Baumwipfel. Es ist wunderschön. Und brechend voll.
„Verdammt!“, flüstere ich und drücke mich gegen Vincents Brust. Wir stehen mitten in der Menschenmasse und warten darauf, dass man uns endlich in dieses sagenumwobene Trauzimmer lässt.
„Ist das richtig, was wir hier tun?“, frage ich leise in sein Hemd.
„Wenn wir auch vor dem Gesetz verheiratet sein wollen, müssen wir das tun. Das wollen wir, also ziehen wir das jetzt durch“, antwortet mein Mann. Also baldiger Mann vor dem deutschen Gesetz.
Ich hebe den Kopf, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Seine Augen sind ganz dunkel. Der Jaguar hat sich tief in seine Seele zurückgezogen. Ein wirklich ungewohnter Anblick in letzter Zeit.
„Willst du das?“ Ich recke mich auf die Zehenspitzen, um ihn besser ansehen zu können. Er wirkt erstaunlich gelassen.
„Eli. Ich liebe dich. Und ich will dich heiraten. Vor dem deutschen Gesetz. Ich schaffe das.“
Ich seufze und lehne meinen Kopf wieder gegen seine Brust. Die letzten Wochen waren eine emotionale Berg- und Talfahrt, wobei die Täler definitiv tiefer waren, als die Berge hoch.
„Frau Brevent und Herr Schmidt!“, brüllt jemand durch die Menschenmenge, und wenigstens ich fühle mich angesprochen, packe Vincent an der Hand und ziehe ihn hinter mir her.
Der Standesbeamte ist ein strenger Mann in einem schlecht sitzendem Anzug. Er hat schütteres Haar und trägt eine goldene Nickelbrille, allerdings hat er keine einzige Falte im Gesicht. Womit er grundsätzlich irgendwie komisch wirkt.
Dafür ist das Trauzimmer wirklich hübsch, mit hohen Decken, einer uralten Fußbodendiele, die honiggolden schimmert, und brokatbezogenen Stühlen. Durch die großen Holzfenster hat man einen wunderbaren Blick auf den Schlosspark.
„Nehmen Sie bitte Platz“, weist er uns an. Offenbar ist er es gewohnt, bei den Eheschließungen für Zucht und Ordnung zu sorgen, und wir setzen uns auf die thronähnlichen Sessel vor seinem ausladenden Tisch. Vielleicht muss man als Standesbeamter einfach sehr streng und ehrerbietend sein, um die marodierenden Hochzeitsmassen unter Kontrolle zu halten.
„Sie wollen beide eine schlichte Zeremonie, ohne persönliche Worte, habe ich das richtig verstanden? Auch keine Gäste?“, fragt er, und wir nicken. Die pompöse Zeremonie hatten wir schon. Er atmet tief durch, als käme ihm das sehr gelegen, und dann legt er los.
„Stehen sie bitte auf!“, bellt er.
Artig erheben wir uns.
“Wollen Sie, Herr Schmidt, mit Ihrer hier anwesenden Verlobten, Frau Elionore Brevent, die Ehe eingehen? Dann antworten Sie bitte mit Ja.“
„Ja“, sagt Vincent und nimmt meine Hand.
„Nun meine Frage auch an Sie, Frau Brevent“, wendet er sich an mich. „Wollen auch Sie mit Herrn Schmidt die Ehe eingehen? Dann antworten Sie bitte ebenfalls mit Ja.“
„Ja“, sage ich fest.
„Ihr gemeinsam geführter Ehename ist Brevent?“ Er blickt kurz von seinen Unterlagen auf, als käme ihm das spanisch vor, doch als wir nicken, streckt er den Rücken durch und schmettert in den Raum: „Ich stelle fest, dass Sie nunmehr kraft Gesetzes rechtmäßig verbundene Eheleute sind. Alles Gute!“
Er knallt uns seine Unterlagen vor die Nase und drückt mir einen Füller in die Hand. „Unterscheiben Sie hier, hier und hier!“
Ich versuche seinem hektischen Finger zu folgen und schreibe dreimal meinen Namen auf das Papier.
Er schubst die Unterlagen zu Vincent. „Und Sie hier mit ihrem angenommenen Ehenamen und ihrem Mädchennamen, also dem Geburtsnamen“.
Vincent lacht. Ganz leise, aber es ist eindeutig ein Lachen. Der Standesbeamte verzieht keine Miene. „Wollten Sie noch Ringe tauschen?“, fragt er stattdessen eilig und angelt sich seinen Füller zurück.
Wieder nicken wir. Verdammt, ist der Kerl zackig. Ob er mal muss? In Anbetracht der riesigen Gesellschaft vor der Tür muss er sich seine Pipipausen vermutlich gut einteilen. Nur seine offenbar doch vorhanden gute Kinderstube hindert ihn daran, uns zur Eile zu treiben.
Damit ist es jetzt nämlich vorbei. Vincent hat das Kommando übernommen. Er hält meine Hand, blickt kurz zu dem Mann hinter dem Tisch, und sagt: „Setzen Sie sich. Kann noch ein paar Minuten dauern.“ Dann hält er plötzlich den Ring zwischen den Fingern. Den wunderschönen Ring, den er mir damals nach unserer rituellen Trauung geschenkt hat. Der seitdem irgendwo gut versteckt war. (Wer das noch mal nachlesen möchte, folgt dem Link!)
Ganz langsam und ohne Eile greift er meine rechte Hand und legt sie sich auf das Herz. Er schließt die Augen und ich tue es ihm gleich. Ich spüre seinen aufgeregten Herzschlag in meiner Handfläche pulsieren, während seine Magie um uns kreist und die Luft zum Knistern bringt. Ich erde mich, öffne mich weit, verbinde mich mit dem Boden und dem Himmel. Langsam gleichen sich unsere Herzschläge einander an, werden immer mehr ruhiger, bis Vincent irgendwann meine Hand hebt und einen Kuss auf die Knöchel haucht. Seine Lippen sind so warm.
Ich öffne die Augen und halte ganz still, während ich im tiefen Braun seiner Iris versinke. Und in einer zarten Bewegung streift er mir den Ring über den Finger. Ich atme tief durch und greife nun nach seiner Hand. Zärtlich lege ich sie mir auf das Herz, während ich weiter zu ihm hochsehe. Der Standesbeamte hatte sich hingesetzt, stand jetzt aber wieder auf und und zappelte hinter seinem mächtigen Tisch von einem Bein aufs andere. Ich ignoriere ihn und greife ich in die Innentasche meiner Kostümjacke. Die flache Schachtel ist tiefschwarz, und ein wenig umständlich klappe ich sie auf. Ich habe den Ring online bestellt und hoffe inständig, dass er passt. Doch das polierte Silber gleitet anstandslos über sein Fingergelenk. Breit und mit einem Totenkopf vorne drauf ist dieser Ehering etwas für den weltgewandten Mann von heute.
Vincent grinst mich an und zieht belustigt eine Augenbraue nach oben. „Vor mir liegt ein Leben voller Überraschungen“, sagt er und hebt seine Hand, um den Ring zu betrachten. „Hab noch nie einen Ring getragen.“
„Deswegen ist er so groß. Damit du ihn nicht verlierst.“
Der Standesbeamte räuspert sich vernehmlich. Er ist in Not. In Zeitnot, wir hatten zwar keine pompöse Zeremonie, dafür aber unendliche fünfzehn Minuten benötigt, um uns gegenseitig die Ringe an die Finger zu stecken. Er ist durchaus empört, aber nach Vincents klarer Anweisung, er möge sich setzen und still verhalten, ein wenig zurückhaltender. Kann man ihm nicht verdenken.
Wir nehmen alle Unterlagen entgegen, einschließlich des Stammbuches der Familie, das wir jetzt besitzen. Ein Stammbuch! Man stelle sich das vor! Vince und ich! Vorne drauf sind zwei goldene Ringe abgebildet, und es ist von seiner ganzen Machart wirklich hässlich, aber das Model „Standard“ bekommt man halt, wenn man das im Vorfeld nicht anders entscheidet.
Hand in Hand verlassen wir das Trauzimmer. Direkt vor der Tür steht schon die nächste Braut, die ihren zukünftigen Mann fest an der Hand hält. Sie ist absolut startbereit.
„Das hat aber gedauert“, sagt sie und späht an uns vorbei, ob nun noch vierundzwanzig bis achtundsiebzig Gäste mit uns den Saal verlassen werden, aber außer uns ist da niemand. Wir sind alleine. Und das ist auch verdammt gut so.
Schweigend, aber entspannt laufen wir zum Wagen. Der nun natürlich sehr standesgemäß ist. Vincent knotet eine kleine weiße Schleife an jeden Außenspiegel und lässt sich dann auf den Beifahrersitz fallen.
„Das ist eine deutsche Tradition. Dass man das Auto schmückt. Wusstest du nicht?“ Er grinst, und ich gebe Gas.
Eigentlich wollen wir noch etwas Essen gehen, ich hatte an einen Besuch bei unserem liebsten Sushi-Hersteller gedacht, doch schon an der ersten Kreuzung und nach einem kurzen Seitenblick ist mir klar, dass für Vincent der weitere Aufenthalt unter rein menschlichen Wesen jetzt nicht angeraten ist. Seine Augen leuchten in einem tiefen Gold. Das ist sehr hübsch, aber leider keine Augenfarbe die in der menschlichen Welt vorkommt.
„Was?“, fragt Vince mich, dem mein Blick nicht entgangen ist. Ich erwidere: „Guck doch mal in den Schminkspiegel.“
„Weil ich jetzt einen Mädchennamen habe? Soll ich deswegen in den Schminkspiegel gucken?“, fragt er. Ich grinse. Ich habe es geschafft, meinen mir nun auch rechtmäßig angetrauten Gatten, zu verwirren. „Nein. Mann. Klappe die Sonnenblende runter und guck da rein!“
Er brummt etwas, klappt die Sonnenblende runter, guckt in den Spiegel, klappt ihn wieder hoch und schweigt.
„Ich koche uns ein Butterbrot zu Hause“, sage ich und biege auf die Landstraße Richtung Hegewald ab.
„Ich hab das noch nie gesehen“, sagt er schließlich. „War vielleicht gleich ein bisschen viel Zivilisation für den Anfang.“ Er greift nach meiner Hand und schaut aus dem Fenster. „Mir war nicht bewusst, dass man es so derart in meinen Augen erkennen kann, wenn der Jaguar durch meine Seele läuft.“
„Mach dir nichts draus“, sage ich trocken. „Mir kann man nahezu jeden Gedankengang im Gesicht ablesen. Das ist auch nicht wesentlich besser. Falls das mit dem prachtvollen Farbspiel in deiner Iris so bleibt, besorgen wir dir Kontaktlinsen. Der Drache hat ja auch dermaßen unmenschliche Augen, der kann sich ohne Kontaktlinsen gar nicht aus dem Haus wagen.“
„Zumindest nicht, wenn er vorhat, nicht aufzufallen“, sagt Vincent. Ich biege auf die kleine Zufahrtsstraße zu unserem Haus ab, beschleunige die gefühlten 640 PS noch mal spaßeshalber und parke den Wagen dann neben meinem elendig den Dienst verweigernden Alfa.
„Brennt da eine Kerze?“ Vincent reckt den Hals und blickt mit gerunzelter Stirn zum Haus.
Ich stelle den Motor ab und drehe mich ebenfalls um. „Oh Göttin“, sage ich und betrachte die Kerze im Einmachglas. Es sind sogar mehrere. Dabei ist helllichter Tag.
Vince dreht sich wieder zu mir und sieht mich an. „Wie oft in unserem Leben haben wir eine Kerze entzündet? Ich meine nicht die für magisch rituellen Zwecke, sondern rein der romantischen Stimmung dienenden?“, fragt er.
„Äh“, erwidere ich und versuche mich zu erinnern. „Vielleicht … so … einmal? Haben die das wegen uns gemacht?“
„Na, wenn die beiden hier nicht spontan eine Kerzenmanufaktur mit Außer-Haus-Verkauf eröffnet haben, sehe ich keinen anderen Anlass“, erwidert er.
„Aber ich habe nicht gesagt, wo wir hingefahren sind!“
„Eli. Ganz ehrlich. Du bist sehr klug. Einer der Gründe, warum ich dich geehelicht habe. Kluge Frauen sind großartig. Und trotzdem beschleicht mich manchmal das Gefühl, dass du nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen sein kannst.“ Er tippt mit dem Finger sanft auf den Ärmel meines cremefarbenen Kostüms und steigt dann schwungvoll aus.
Als Erstes begrüßt uns der Kobold, der uns mit ehrfurchtgebietend erhobener Hand am Durchqueren des Flures hindert.
„Stopp“, ruft er panisch, woraufhin wir natürlich wie angewurzelt stehen bleiben. Er ist der Kobold der leisen Töne. Wenn er laut wird, muss man dem sofort Folge leisten.
„Was ist los?“, frage ich, und er beginnt wild mit den Armen zu rudern.
„Weiß ich auch nicht“, ächzt er schließlich. „Der Drache hat gesagt, ich soll euch stoppen. Was er sagt, mache ich.“
„Ein kluges Verhalten“, lobe ich ihn. „Können wir jetzt rein?“
„Hmpf“, sagt der Kobold und flitzt von dannen.
„Wir hätten wegfahren sollen. In die Flitterwochen. Weit weg. Auf die andere Seite der Welt, vielleicht?“, sagt mein Gatte.
Ich schlüpfe aus meinen viel zu hohen Schuhen und stelle aufatmend meine Füße auf die kühlen Dielen. Als Nächstes taucht Maxim im Türrahmen auf und mustert uns aus seinen viel zu grünen, viel zu hellen Augen.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagt er leise und eines dieser abgrundtief ehrlichen Lächeln taucht auf seinem Gesicht auf.
Ich gehe zu ihm und er nimmt mich kurz in den Arm.
Vincent ist neben mich getreten und als Maxim mich loslässt, nimmt er Vincent in den Arm. Einfach so, ganz fest. Wie zwei echte Wandler, die einem Rudel angehören, es zu tun pflegen. Um sich ihrer Verbundenheit zu versichern, um die Nähe aus der Rudelmagie zum Wachsen zu bringen.
Ich gehe in die Küche und bleibe staunend vor dem gedeckten Tisch stehen. Die Kerzen brennen auch hier, und es gibt sogar Rosen in einer hübschen Kristallvase, die mir unbekannt ist.
Pax sitzt mit baumelnden Beinen auf der Küchentheke. „Er wollte kochen. Aber die Zeit war zu knapp. Stattdessen gibt es belegten Brote“, sagt er trocken und hebt die Hände in meine Richtung.
Ich trete zu ihm und auch er nimmt mich äußerst zärtlich in die Arme.
„Herzlichen Glückwunsch“, flüstert er mir ins Ohr. „Ich nehme an, die Abwesenheit aller anderen bei diesem Ereignis war absolute Absicht?“
Ich nicke und drücke mein Gesicht gegen seine Schulter.
„Die Kerzen waren übrigens seine Idee.“ Ich hebe den Kopf wieder und er deutet auf Maxim. „Ich dachte, er ist ein großer, gefährliche Wandler. Stattdessen ist er ein verkappter Kamikaze-Romantiker.“
Er grinst mich an und blickt mir dann über die Schulter. „Vincent. Ich würde zu dir kommen, aber das geht nicht, deshalb musst du zu mir kommen“, sagt Pax jetzt wesentlich lauter.
Vincent tritt einen Schritt näher, die Augen halb zusammengekniffen, seine ganze Körperhaltung strahlt plötzlich Ablehnung aus.
Pax streckt ihm seine Hand entgegen. „Herzlichen Glückwunsch.“
Vince scheint kurz darüber nachzudenken, ob er das so offensichtliche Friedensangebot annehmen sollte. Oder eben nicht. Bei diesen dominanten Typen weiß man das immer nicht so genau. Steht 50:50 würde ich sagen.
Pax zieht seine Hand abrupt zurück, und ich verdrehe die Augen, schweige aber weiter. Auch wenn es mir schwer fällt. Angeordnete Freundlichkeit dürfte an dieser Stelle fehl am Platz sein.
Pax seufzt und sagt: „Es tut mir leid. Dass ich dich im Garten so angemacht habe. Eli ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.“
„In meinem auch“, erwidert Vincent knapp.
„Ja, deshalb gibt es da vielleicht ein Interessenkonflikt“, sagt Pax, doch Vincent schneidet ihm das Wort ab. „Du hast keine Ahnung, wovon du redest. Du hast mir abgesprochen, die Verantwortung für Eli tragen zu können.“
Pax reibt sich die Handflächen und sieht Vincent von der Seite her an. „Ich wäre für sie gestorben“, schnauzt mein Mann ihn an. „Mehr als einmal. Verdammt, und dann sagst du mir das auch noch, als es mir so schlecht ging. So schlecht, dass ich dachte, dieser Schmerz würde mich kleinkriegen.“
Okay. Da muss wohl noch etwas ausdiskutiert werden. Ich verhalte mich still und leise, während Maxim unauffällig an einen Glas kaltem Weißwein nippt, das schon auf dem Tisch steht.
„Tut mir leid. Das war unfair“, sagt Pax und ich sehe ihn erstaunt an. Hat das mein Vater gesagt? Hat er sich etwa grad entschuldigt?
Er überrumpelt damit nicht nur mich, sondern auch Vincent, der nur ein „Oh“, von sich gibt, obwohl er wohl sonst gerne noch weitergemotzt hätte.
„Es ging mir auch nicht gut, und du warst wohl nur mein Ventil. Ich habe mir solche Sorgen um Eli gemacht. Ihr Herz hat schon geklirrt vor lauter Schmerz und Sorge, und das ist mir nicht bekommen. Tut mir leid. Falls du aber meinst, du könntest jetzt mehrere Jahrzehnte nachtragend sein, dann tu das bitte. Ich erinnere dich nur kurz daran, dass ich der Vater deiner Frau bin und du mich niemals nie loswerden wirst.“
Vincent sieht ihn hoheitsvoll an. Dann sagt er trocken: „Du kannst so ein Arsch sein!“
Er macht einen Schritt auf ihn zu und umarmt Pax. Was es in der Geschichte bisher noch nicht gegeben hat. Die unbeteiligten Zuschauer halten kurz die Luft an, doch beide sind nach Beendigung der intensiven Männerumarmung unversehrt.